Die beschissenen Schnallen…!

Die große Kanadierin fummelt – begleitet mit leisen Flüchen - immer noch an einer Schnalle an ihrem Kampfstiefel, die sich nicht so recht nachziehen lassen wollte. Das sagt zumindest Lara zu sich im Stillen, denn sie gehört zu den wenigen Frauen, die nicht gerne Gefühle offen zur Schau tragen.

Denn sie ist nervös.

Nach langen Augenblicken hat sie endlich die letzten Schnallen durch und prüft nun den Sitz der gehärteten Kneepads zum fünften oder sechsten Mal.

Ich hasse einfach alles. PCWA. Brawlin' Rumble. Diese Leute. Lafayette. Einfach alles.

Als sie sich in „ihrem“ Lockerroom zurücklehnt, seufzt sie nur und blickt sich in dem Raum um. Es ist recht karg, persönliche Gegenstände fehlen bis auf ihre Sporttasche, die sie neben der obligatorischen Holzbank abgestellt hat. Zwar hat sie einen eigenen Lockerroom bekommen, aber es ist nicht ihres. Ein PCWA-Vertrag hat sie nicht in der Tasche, heute ist sie nur als Gast für diesen einen Kampf anwesend. Aber wenn es nach Lafayette, ihr neuer Boss, gehen soll, soll sie ein ständiges Mitglied von diesem Verband werden.

Bis heute weiß sie immer noch nicht, ob sie wirklich dazugehören kann, ob sie jemals wieder wirklich dauerhaft wrestlen kann. Denn das ist nämlich noch längst nicht in den trockenen Tüchern.

Lafayette hat ihr ziemlich deutlich ausgedrückt, dass sie diesen „Test“ bestehen muss, oder es drohen Konsequenzen für ihre Schwester oder ihren Bruder.

In diesem Moment denkt Lara an diese beiden Personen, die sie über alles liebt. Ihre Mutter ist schon seit Jahren tot, ihrem Vater hat sie nie nahe gestanden und jetzt ist er ebenfalls nicht mehr am Leben. Die jüngere Schwester Lisa leitet nun den großen Holzfällerkonzern CCC in Kanada und ihr gemeinsamer Bruder Sean geht noch zur Schule.

Sie verflucht Lafayette noch einmal dafür, dass er sie entführt hat und nun zwingt, wieder im Wrestling zu kämpfen. Noch vor wenigen Monaten hat sie sich mit diesem Kapitel zwangsweise abschließen müssen – sie ist vollkommen kampfunfähig zerstört worden. Und durch die experimentellen Methoden hat sie wieder die alte Form erlangt ohne dabei im Geringsten zu ahnen.

Deshalb ist sie so nervös, so angespannt.

Nicht wegen Lafayette und seinen scheiß Komplotten.

Sondern weil sie wieder zum ersten Mal gegen echte Gegner kämpfen wird.

Sie blickt auf den rechten, muskulösen Arm. Bis auf zwei sehr lange, aber dünne Narben sieht der Arm wie neu aus. Experimentelle Operationen. Sie hätte auch dabei sterben können. Wenigstens in diesem Punkt ist sie Eric S. Lafayette dankbar: Er hat wirklich keine Mühen und Kosten gescheut.

Doch wieder einmal denkt sie auch nach, wie sie wieder in die Freiheit entkommen kann. Denn im Moment ist die Freiheit nur eine Illusion. Sie bekommt regelmäßig Anweisungen gegen ihren Willen, aber sie hat schlichtweg keine Wahl, diese zu befolgen.

Bislang sind die Forderungen von Lafayette noch relativ harmlos: Training, Übungen, Tests, Prüfungen, Abbruch mit alten Kontakten und so fort. Allerdings fragt sie sich bereits, wann die wirklichen Aufträge kommen, die unangenehm sind. Lafayette ist eine große Nummer im organisierten Verbrechen und Lara ist ziemlich sicher, dass sie den ein oder anderen „Job“ machen muss.

Genau in diesem Moment wird ihr etwas klar: Lafayette hat tatsächlich gar nicht gesagt, WIE der Test zu bestehen ist. Wann der „Test“, also die Teilnahme am Brawlin' Rumble, zum Scheitern verurteilt wäre – das ist offensichtlich. Aber der Afroamerikaner hat vermieden zu sagen, dass Lara den Rumble gewinnen muss.

Ein interessanter Gedanke. Bis jetzt ist sie davon ausgegangen, dass sie den Brawlin' Rumble auf jeden Fall gewinnen muss, damit Lisa und Sean nichts passiert. Aber jetzt… ist das wirklich so, dass sie einfach nur gut genug sein muss? Bei den Gesprächen mit Lafayette hat sie den Eindruck gehabt, dass sich der Mann zwar grausam aber recht versonnen verhält. Zieht er tatsächlich in Betracht, dass Lara Lee im Brawlin' Rumble möglicherweise einfach keine Chancen hat, egal wie gut sie ist?

Aber sie wischt diese Überlegungen so schnell, wie sie gekommen sind, wieder beiseite. Sie kann nichts wegen Vermutungen oder Annahmen riskieren. Sie muss gewinnen.

Aber…

Will sie auch gewinnen?

Lara richtet sich nun von der Holzbank auf, lässt den Kopf kurz kreiseln, dann krümelt sie eine Weile lang in der Sporttasche, bis sie zwei Dinge zutage bringt: eine Zigarette und ein Gameboy. Die Zigarette wird in den Mund gesteckt, aber nicht angezündet und sie fährt das Spielgerät hoch.

Ohne den mit einem weiteren Blick zu würdigen, macht sie sich auf den Weg zur Tür.

Als sie bereits in der Tür steht, schließt sie die Augen und atmet einmal tief durch. Schließlich knallt sie die Tür hinter sich mit neuem Mut zu.

Ja.

---

Normalerweise hört man in leeren Backstage-Gängen nicht viel außer vielleicht den Lärm der Arena im Hintergrund oder das entfernte Getrappel der Backstage-Mitarbeiter.

Doch genau in diesem leeren Gang trötet eine laute, elektronische 8-Bit-Musik und kündigt kilometerweit jeden von ihrer Anwesenheit an. Naja, nicht kilometerweit, aber deutlich wahrnehmbar.

Mit einer nicht angezündete Zigarette im Mund konzentriert sich Lara Lee voll und ganz auf das pixelhafte Rennspiel aus der „F-Zero“-Reihe, das über dem kleinen Bildschirm des GameBoy Advance flimmert. Mit langsamen Schritten voranschreitend, bugsiert sie durch schnelles und heftiges Drücken auf den Tasten ihr Rennfahrzeug um die Kurven und die Gegner.

Ein Backstage-Mitarbeiter eilt an ihr vorbei, wobei er mit großen Augen und gerunzelter Stirn Lee anstarrt. Dass sie dabei überhaupt nichts von der Umgebung wahrnimmt, ist nur offensichtlich.

Nach ein paar Runden des Rennens im Gameboy bleibt Lara vor einer T-Kreuzung stehen. Sie ist gerade dabei, die letzte Runde zurückzulegen und duelliert gerade mit einem schwierigen Gegner…

… als auf einmal alles an Licht und Strom ausgeht! Sogar der Display verwandelt sich in die Schwärze und die kleinen Lämpchen des Geräts erlöschen, als ob gerade die Batterien leer geworden sind.

Wir können zwar nichts in dieser Schwärze sehen, aber davon ausgehen, dass Lara schockiert sein muss. Vermutlich nicht wegen des fehlenden Lichts, sondern dass ihr Spiel des Lebens so plötzlich abgebrochen wurde…

Nach wenigen Augenblicken erscheint zunächst ein blendend heller Lichtpunkt, bis er sich dann zu einer leicht zuckenden Flamme verwandelt. Lara hat ein Streichholz angezündet. Das Licht reicht aus, um ihr Gesicht auszuleuchten…

Und sie hätte das Streichholz fast losgelassen – sie hat sich so heftig erschrocken! Nur die Zigarette ist aus dem Mund gefallen.

Denn genau gegenüber ist ein weiteres Gesicht. Ebenfalls weiblich, aber deutlich schöner als Lara. Geschwungene, fein nachgezogene Augenbrauen. Stupsnase. Volle Lippen. Dezentes Rouge-Make-Up. Schwarze, glänzende Haare.

Dann bricht sie mit eine leisen, fast säuselnden Stimme die Stille, die mit der Dunkelheit gekommen ist.

„Schön, dass Du hier angekommen bist.“

Die Kanadierin erwidert nicht darauf, stattdessen verzieht sie die Miene nur.

„Miss Lee, Lafayette hat mich geschickt. Ich wurde damit beauftragt, Dich in seiner Abwesenheit zu betreuen und seine Mitteilungen zu übermitteln.“

Lara will doch darauf erwidern, aber die hübsche Frau fährt einfach weiter fort.

„Ich sehe, Du bist bereit für den großen Test – den Brawlin' Rumble. Es würde Lafayette eine große Freude bereiten, wenn Du diesen Test bestehen würdest. Du kannst Dir sicher vorstellen, dass seine Enttäuschung bei einem Fehlschlag sicherlich nicht angenehm für Dich ausfallen könnte. Daher ist mein Rat zu beherzigen: Gib Dein Bestes.“

Lara: „Ja doch, Mama. Das übliche Blabla: ich muss das Beste sein, sonst werden Papa und Mama böse und der ganze Scheiß. Ich hab‘ eh keine Wahl, also mache ich es so oder so. Du kannst mir wenigstens erzählen, wer zum Teufel du bist und warum du mein verdammtes Spiel kaputtgemacht hast.“

Die Frau scheint nicht besonders über die saloppe Erwiderung überrascht zu sein, doch sie lächelt und nickt fast unmerklich.

Botin: „Der Name tut nichts zur Sache, ich bin nur die Botin. Ich melde mich dann nach dem Brawlin' Rumble noch einmal. Und denke daran, Miss Lee: Das ist kein Kampfspiel, sondern ein Kampf.“

Und mit einem kräftigen Pusten erlöscht sie die Flamme und alles verschwindet wieder in der Dunkelheit. Doch im nächsten Augenblick gehen die Leuchtstoffröhren wieder an – ohne einziges Flackern. So als ob sie gar nicht ausgeschaltet gewesen wären.

Und wie kann es sonst anders sein – die schöne Dame ist verschwunden. Keine einzige Spur von ihrer Anwesenheit. Die kräftige Kanadierin blickt in die drei Gänge, aber kann natürlich nichts Ungewöhnliches bemerken. Als sie dann auf den Gameboy hinabblickt, muss sie missmutig feststellen, dass das Spielgerät nach wie vor ausgeschaltet ist.

Schulterzuckend bückt sie sich hinab, um die gefallene Zigarette aufzuheben und von Schmutz abzuklopfen. Ihr Blick konzentriert sich auf die gegenüberliegende Wand.

Lara: „Das war kein Kampfspiel, sondern ein Rennspiel, verdammt nochmal.“

Und steckt den Lungentorpedo wieder in den Mund und biegt nach rechts in einen weiteren Gang…

Vincent Craven: "Lara Lee ist tatsächlich hier in der Halle und sie sieht wirklich fit und gut aus! Krass! Ernsthaft krass!"

Mike Garland: "Ihr erster Tritt aus der Kabine in die Welt der PCWA bringt ihr allerdings erneut den Kontakt mit diesem Lafayette... scheinbar hat er ihr auferlegt, beim Rumble gut abzuschneiden oder diesen sogar zu gewinnen."

Vincent Craven: "'Gib dein Bestes' - war der Rat der Botin - aber was soll das schon heißen? Wer gibt denn bitteschön heute Abend nicht sein Bestes? Da muss ich Lara definitiv Recht geben."

Mike Garland: "Für sie wird es jedoch nochmal schwerer, als für andere. Immerhin stand sie längere Zeit nicht im Ring und auch wenn man ihre Muskeln trainiert hat - Ausdauer braucht man im Squared Circle auch. Und dass man 'drin' ist, wie die Wrestler sagen, spielt auch immer eine große Rolle."

Vincent Craven: "Da hast du Recht, Mike. Lara aber wirkt noch ganz cool, spielt sogar mit ihrem Gameboy rum. Sie ist sicherlich eine Wundertüte heute Abend."

Mike Garland: "Bis zum Main Event ist es ja auch noch ein bisschen. Schauen wir deswegen mal, wie es bei unserem Undisputed Gerasy Champion aussieht. Sein Match ist als nächstes dran und rückt immer näher..."